Donnerstag, 26. November 2015

Öffnen des Raums

Systemische Beratung ist lösungsorientiert. Dabei unterstützen 2 Ps: Priming und Perspektivenwechsel. 


Wer den Raum öffnet, erhöht seine Wahlmöglichkeiten
(Foto: Bernd Schmid)

Probleme sind Wirklichkeitskonstruktionen

Irgendwie war mir das immer schon klar, zumindest seit langem. Aber als Markus Schwemmle den Gedanken von Problemen als Wirklichkeitskonstruktion aufgreift und ausführt, da macht es in meinem Kopf Klick. 
Probleme seien, so Schwemmle, häufig gekennzeichnet von einer Abwertung des Ist-Zustandes und einer Idealisierung des Soll-Zustandes. Mit der Konsequenz, dass man zwischen mies empfundenem Ist und unerreichbar tollem Soll häufig wie gelähmt ist und keinen Weg sieht. Das gelte im ganz besonderem Ausmaß auch für berufliche, betriebliche Problemstellungen. Die Aufgabe des Beraters liege dann darin, die Aufmerksamkeit auf eine andere Perspektive zu fokussieren, das Problem beispielsweise von außen zu betrachten. Dieser Perspektivenwechsel eröffne Raum. 
Die eigene Perspektive, die eigenen Vorstellungen und Muster dienen als Landkarte, die bei der Orientierung wertvoll sind. Aber die Landkarte bildet nicht die Landschaft, also die Realität ab. Detaillierte Eindrücke von der "Landschaft" erhält man, wenn man sich in andere hineindenkt. Dieser Perspektivenwechsel gilt in der Psychologie oftmals als Hauptbedingung für kreative Problemlösungen. 

Zudem könne der Berater Situationen wachrufen, die ebenfalls problematisch waren, aber als geglückt empfunden werden. Dieses Sich-Erinnern an die Situation und an die damals eingesetzten inneren Fähigkeiten schaffe Wahlmöglichkeiten, wie mit der aktuellen Problemstellung umgegangen werden kann. Bekannt ist dieser Effekt als Priming
 
Und während ich Markus Schwemmles Ausführungen folge, fällt mir eine Begegnung ein, die das Gehörte für mich mit Leben füllt.

Aus jeder Gedankenspirale gibt es auch einen Ausweg

Probleme wertschätzen und intervenieren

Als Journalistin arbeite ich überwiegend mit Menschen, die aufgrund einer Diagnose ihr Leben neu sortieren müssen. Die lernen müssen, mit und nicht gegen etwas zu leben, das sie sich nicht freiwillig ausgesucht haben. Überkommene Muster, wie das Denken in Ursache und Wirkungszusammenhängen, sind da wenig hilfreich. Der Rückzug aufs Gestern, als alles noch möglich war, zieht Energie ab, statt zu kräftigen. Kräftigend wirken kann dagegen ein Perspektivenwechsel und die Rückbesinnung auf eine schwierige Situation, die gemeistert wurde. Denn so können Ressourcen aktiviert werden, die schon einmal bei der Lösung eines schwierigen Problems geholfen haben. 

Und jetzt zu der ganz konkreten Geschichte, die mir eingefallen ist:

Eine meiner Gesprächspartnerinnen war eine erfolgreiche Bankerin, die seit knapp einem Jahzehnt mit Multiple Sklerose lebt, dies aber am Arbeitsplatz geheim hielt. Aufgrund der zunehmenden Fatigue konnte sie nicht mehr vollumfänglich arbeiten und hangelte sich von Krankschreibung zu Krankschreibung. Ihre Mitarbeiter begannen zu murren, die Kollegen grenzten sich ab. Sie gewann den Eindruck, dass hintenherum über sie gelästert wurde, und strengte sich noch mehr an, um ihr Arbeitspensum irgendwie zu schaffen. Diese Überanstrengung raubte ihr die Restenergie, die ihr die chronische Müdigkeit noch ließ. 

Während unserer Gespräche, die ich für eine Interviewreihe "MS und Arbeitswelt" führte, lernte ich viel über Fatigue, einem Krankheitssymptom, das für mich unvorstellbar schrecklich ist, weil es für andere unsichtbar ist und gleichzeitig die gesamte Energie absorbiert, das Leben dominiert. Und da ich als Journalistin immer auch die andere Perspektive brauche, um eine Geschichte "rund" zu machen, sprach ich mit den Kollegen der Frau, hörte mir an, wie sie die Situation einschätzten (verkannten). 
Als ich den Interviewtext mit der Frau durchging, erzählte ich ihr nebenbei von den Einschätzungen der Kollegen. 

Einige Monate später rief mich die Frau an. Sie hatte sich in der Bank "geoutet", hatte beschlossen, ihre Kollegen und ihren Chef über die Krankheit zu informieren. Die nötige Kraft für diesen Schritt habe sie dadurch gewonnen, berichtete sie mir auf meine Nachfrage, dass sie daran gedacht habe, wie es war, als sie frisch die Diagnose hatte und es ihrem Partner erzählte. Ihre Angst vor Abgrenzung, Verlassenwerden und Mitleid war groß damals. Aber ihr Partner reagierte ganz anders: mit Mitgefühl und dem Wunsch, miteinander Wege zu suchen.

Heute arbeitet die Frau immer noch in der Bank. Als Behindertenbeauftragte berät sie andere, die mit Handicap leben und arbeiten.


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